Mittwoch, 20. Januar 2016

Chausseebau

Obernkirchen litt schon immer an seiner topographischen Lage. Zwar profitierte die Stadt von den reichen Sandstein- und Steinkohlevorkommen, allerdings nur solange, wie eine gute Verkehrsanbindung nicht relevant war. Im 19. Jahrhundert änderte sich dies. Die in Obernkirchen geförderten bzw. abgebauten Massengüter wie Steinkohle, Sandstein und Glas brauchten gute Wege, damit die schweren Pferdefuhrwerke nicht nur die vorhandenen Wege schonten, sondern auch einigermaßen zügig vorankommen konnten. Mit dem Bau der Eisenbahn verschärften sich diese Abhängigkeiten noch. Obernkirchen stand über mehrere Jahrzehnte schlecht da. Der über ein viertel Jahrhundert verzögerte Bau der Rinteln-Stadthagener Eisenbahn war in der Zeit des Kaiserreichs ein wichtiges Thema für die Stadt.
Dabei wird allerdings vergessen, dass Anfang des Jahrhunderts eine Entscheidung getroffen wurde, die den im regionalen Zusammenhang durchaus beeindruckenden industriellen Aufschwung der Stadt unterstützt haben dürfte.
Die Massengüter aus Obernkirchen wurden über die Weser versandt, entweder von Kohlenstädt aus oder über Petershagen. Der Weg den Berg hinunter zur Weser bei Rinteln war relativ kurz und ging nur eine kurze Strecke über schaumburg-lippisches Gebiet (später wurde sogar eine komplette Umgehungsstraße gebaut).
Über Jahrhunderte waren Straßen nach dem gleichen Muster gebaut worden, d.h. es gab kein wirkliches Muster. Die Wege waren holprig und ausgefahren, Regen- oder Grundwasser wurden nicht ordentlich abgeführt, weshalb die Straßen bei feuchtem Wetter bald völlig verschlammt waren. Doch Ende des 18. Jahrhunderts kam eine neue Form des Straßenbaus auf, die Chausseen. Der Brockhaus von 1830 beschreibt Chausseen so:
„Alle durch Kunst gemachte, in der Mitte etwas erhobene, auf beiden Seiten mit gehöriger Abdachung und Böschung nebst Gräben versehene, gepflasterte oder ungepflasterte, 28 - 36 Fuß breite Straßen, sie mögen blos aus Erde u. Steinen erbaut sein …“
Eine solche Chaussee wurde ab 1806 auch in Obernkirchen, beginnend mit dem Kuhtor, angelegt, sie verlief dort, wo heute die Rintelner Straße verläuft. Von den umgebenden Straßen unterschied sie sich schon durch ihren völlig gerade Verlauf. Zum ersten Mal seit der Römerzeit entstanden in Europa Straßen, die wie mit dem Lineal gezogen waren.
Auf http://lagis.online.uni-marburg.de/img/hkw/s3/2_124.jpg gibt es eine Karte Obernkirchens aus dem Jahr 1840, auf der wir gut diesen schnurgeraden Verlauf sehen können. Auch die anderen Elemente der Chaussee wirken so, als seien sie von den Römern abgeschaut worden: die sorgfältige Pflasterung, in der Mitte leicht erhöht, damit das Wasser abfließen konnte (so wurden noch  bis in die 1960er Jahre Straßen gebaut!), mit einer Böschung und einem Graben versehen, häufig mit Pappeln bepflanzt, weil sie viel Wasser verbrauchen und damit den Untergrund trocken hielten.
Die Arbeiten waren nicht einfach. Zum einen verbrauchte die neue Chaussee mehr Land als die alte Straße, weshalb Entschädigungen für Grundstücke gezahlt werden mussten. Dann gab es Unglücksfälle, wobei in einem Fall eine Frau zu Tode kam. Und schließlich führten die Bauarbeiten und die Aufsicht durch Wagewärter immer wieder für Konflikte mit den Fahrer der schweren Frachtwagen, die teilweise mit bis zu 10 Pferden bespannt waren. Aus einer Aufstellung können wir übrigens entnehmen, dass 1808 täglich ca. vier schwere Frachtwagen die Chaussee von Obernkirchen zur Weser befuhren, aus heutiger Sicht vielleicht wenig, für damalige Verhältnisse vermutlich eine erhebliche Zahl.
Für die Obernkirchener Betriebe dürfte der Bau der Chaussee eine erhebliche Verbesserung dargestellt haben und vermutlich eine wichtige Voraussetzung für den schnellen Ausbau von Bergbau, Steinhauerei und ab 1827 auch die Glasindustrie gewesen sein. Zudem schuf sie selbst Arbeitsplätze, denn es gab einen Chausseegelderheber (der Staat verdiente also direkt an der Straße mit!), Wegewärter und auch einfache Arbeiter.
Dass der nächste wichtige Fortschritt im Verkehr der Stadt nahezu 100 Jahre brauchen würde, war 1808 nicht abzusehen.

Mittwoch, 11. November 2015

Eine frühe Bürgerinitiative

Viele glauben, dass vor dem 19. oder gar dem 20. Jahrhundert in unserer Gesellschaft Willkür herrschte. Der Gutsherr konnte danach mit seinen Leibeigenen machen, was er wollte, der „absolute“ Landesherr mit allen seinen Untertanen. So war es allerdings nicht. Zwar kannte die vormoderne Gesellschaft nicht unsere heutigen Möglichkeit der Partizipation, aber der Einzelne oder eine Gruppen waren nicht völlig rechtlos. Vielmehr gab es einerseits rechtliche Regeln, die für alle bindend waren, zum anderen alte Gepflogenheiten, die nicht einfach außer Kraft gesetzt werden konnten.
Untertanen und Bürger wehrten sich immer wieder gegen behördliche oder obrigkeitliche Willkür - oder das, was sie dafür hielten. In Obernkirchen bin ich nun auf einen Konflikt gestoßen, bei dem sich Bürger nicht gegen den Landesherrn wandten, sondern an ihn, und zwar gegen ihr eigenes Stadtregiment. Die Art und Weise, wie dieser Protest geführt wurde, wirkt in mancher Hinsicht höchst modern.
Die Geschichte fing damit an, dass 1762 der langjährige Bürgermeister Tünnermann gestorben war.
Ein Nachfolger musste gewählt werden, aber das erwies sich als gar nicht so einfach, denn die Bezahlung der Bürgermeister war mit unter 100 Reichtstaler (Rtlr.) im Jahr nicht gerade verlockend. Schließlich wurde nach einem Übergangskandidaten, der bald „resignierte“, also zurücktrat, der Cand. jur. Steding gewählt. Schon 1763, bei seiner Wahl, wurde wohl eine Zulage von 60 Rtlr. beschlossen. Zwei Jahre später wurde erneut eine solche Zulage, nun aus der Kontributionskasse (die Kontribution war ein Vorläufer unserer heutigen Grundsteuer, die aber von der Stadt erhoben, verwaltet und an den Staat weitergeleitet wurde) beschlossen. Doch die Bürger Obernkirchens waren damit überhaupt nicht einverstanden. Schnell formierte sich in der Stadt ein breiter Widerstand. Er entzündete sich daran, dass entgegen späterer Aussagen, die notwendigen 60 Rtlr. seien in der Kontributionskasse vorhandenen gewesen, das Geld von den Bürger eingetrieben wurde.
Der Bürger Feldmann formulierte im August ein langes Protestschreiben gegen diese Praxis; auch sollten zwei Vertreter der Stadt nach Kassel zum Hof des Landgrafen reisen, um dort die eigene Sache zu vertreten.
Die nun alarmierte Stadt suchte bei der Regierung in Rinteln Unterstützung. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Grafschaft Schaumburg hessischen Anteils noch wie ein selbständiges Territorium behandelt, das eine eigene Regierung in Rinteln hatte, die aber wiederum direkt dem Landgrafen in Kassel unterstand. Die Regierung ermutigte die Stadt, weiter das Geld einzutreiben und notfalls Pfänder zu nehmen, allerdings zugleich die klagenden Bürger zu befragen. Dieses Schreiben stammt vom 4. September 1765, aber schon zwei Tage später wurde die Regierung in Rinteln von ihrem Landesherrn aus Kassel regelrecht zurecht gewiesen, die Erhöhung der Mittel für den Bürgermeister sei vorher nicht genehmigt gewesen, die Bürger seien nicht zuvor informiert worden. Die schon eingetriebenen Gelder seien zurück zu geben.
Einen Eindruck von den Vorgängen, die sich im Spätsommer/Frühherbst in Obernkirchen abgespielt haben könnten, gibt ein leider undatiertes Klageschreiben der Bürger, in dem es heißt:
„Es half kein Protestieren noch appellieren, auch nicht einen Tag über wollte man damit anstehen. Und da keiner der Unsrigen Lust indeß bezeuget und belieben getragen (??), des andern sein Guth an sich zu bringen (aha!), so mußten die Juden herbey, so das mehrste dann dahin genommen, sogar einer der unsrigen nahmens Brandt wurde gefänglich hingesetzt“.
Die Stadt bestätigte später diese Aussagen, sah darin aber kein Problem, sondern eine Form der Aufsässigkeit gegen das Stadtregiment.
Eigentlich war das Schreiben des Landgrafen an die Regierung in Rinteln eindeutig gewesen, eigentlich. Die Bürger waren sich offenbar nicht so sicher, und deshalb beauftragten sie am 10. September den Anwalt Casselmann mit der Wahrnehmung ihrer Interessen. Die formelle Bestätigung für Casselmann liegt der Akte bei. Sie enthält eine vierseitige Unterschriftenliste, auf der 153 Namen verzeichnet sind. Da Obernkirchen 20 Jahre später ca. 200 Haushalte hatte, können wir davon ausgehen, dass die Mehrheit der Bürger den Protest unterstützte.
Die Liste ist auch deshalb interessant, weil sie zeigt, dass zu diesem Zeitpunkt keineswegs alle Obernkirchener schreiben konnten. Immerhin 49, also fast ein Drittel, musste mit Kreuzen zeichnen, konnte also seinen Namen nicht einmal schreiben. Unter den Unterzeichnern waren auch 15 Witwen, von denen immerhin neun ihren Namen nicht schreiben konnten.
Die Sorge der Kläger, dass die Sache irgendwie im Sande verlaufen könnte, war offenbar nicht unberechtigt, denn zunächst geschah - nichts. Im Januar 1766, also über ein viertel Jahr nach der eigentlich klaren Anweisung des Landgrafen war offenbar immer noch nichts passiert. Zwar hatte die Regierung in Rinteln erneut nach Kassel berichtet, aber der Landgraf war mit den Antworten nicht einverstanden. Im Dezember wollte er noch einmal wissen, weshalb überhaupt die Zulage ohne Zustimmung aus Kassel bewilligt worden sei. Die Regierung beschrieb noch einmal, dass schon Stedings Vorgänger eine entsprechende Zulage erhalten hatte und man deshalb davon ausgegangen sei, alles habe seine Ordnung. Am 31. Januar kam dann ein weiteres Schreiben aus Kassel, das wie eine Ohrfeige für die Beamten gewirkt haben muss. Die Zulage sei ohne landesherrliche Genehmigung erfolgt und daher nichtig, die Bürger müßten ihr Geld zurück erhalten.
Doch immer noch ließ man sich Zeit. Im Mai 1766, also erneut Monate nach der landesherrlichen Verfügung, beklagen sich Rat und Bürgermeister über das Verhalten der Bürger gegen ihre Obrigkeit, das als „despektierlich und strafbar“ bewertet wird. Rat und Bürgermeister hatten offenkundig ausgeblendet, dass sie gegen ausdrücklichen Befehl ihrer Obrigkeit handelten.
Es dauerte dann noch einmal bis in den Herbst hinein, ehe die Bürger ihre Gelder zurück erhielten. Die seiner Zeit genommenen Pfänder waren aber schon längst in fremde Hände gelangt. Immerhin bekamen sie ihr Geld zurück, die Summen lagen zwischen drei und zehn, in einzelnen Fällen bis zu 34 Groschen, also fast einen Reichstaler.
Was sagt uns diese Geschichte? Zum einen, dass sich Widerstand lohnen kann, wenn man einen langen Atem hat. Sie zeigt aber auch, dass Kassel offenkundig weit weg war, Stadtobrigkeit und Regierung in Rinteln mussten sich letztlich den Anordnungen aus Kassel beugen, aber sie verzögerten immer wieder die Anordnungen ihres Landesherrn. In einer von Herkommen und lokalem Eigensinn geprägten Gesellschaft spielte der zentrale, bürokratische Fürstenstaat zwar eine immer stärkere Rolle, die lokalen Gewalten erwiesen sich aber als zähe Kontrahenten.

Quelle: NLA Bbg. H 1 473, Teil 1
Es geht weiter ...

Der erste Eintrag in diesem Blog war eigentlich nur ein Test. An anderer Stelle waren schon ein paar Texte erschienen: http://www.museum-obernkirchen.de/blog.html und auch hier: http://www.museum-obernkirchen.de/fundgrube/quellen-und-texte.html.
Mir erscheint diese Art der Veröffentlichung aber nicht so gut zu sein, da alle Vorteile eines Blogs wegfallen. Deshalb werde ich hier weiter schreiben. Die nächste Geschichte folgt nach diesem Eintrag.
Meine Idee ist es, hier im Blog Texte zusammen zu stellen, die später auch in der geplanten Stadtgeschichte veröffentlicht werden. Mal sehen, ob das so gelingt.

Donnerstag, 3. September 2015


Gegenstand dieses Blogs ist die Geschichte einer nordwestdeutschen Kleinstadt, am Westhang der Bückeberge gelegen (die übrigens nichts mit dem Bückeberg der Nazis zu tun hat!), mit einem weiten Blick nach Westen in Richtung Porta Westfalica. Eine Stadt, deren Stiftskirche mit ihrem hochaufragenden romanischen Westriegel mit der Doppelspitze schon von weitem sichtbar ist, und die dennoch von vielen nicht beachtet wird. Eine typische Kleinstadt könnte man beinahe sagen: Vergessen, verträumt, ohne Zukunft. Aber stimmt das denn? Treffen denn die Vorstellungen von den verträumten, von gesellschaftlichen Umwälzungen abgehängten Kleinstädten überhaupt zu? Seit einem Jahr versuche ich zusammen mit Studierenden der Geschichte dieser kleinen Stadt nachzugehen. 
Zwar habe ich mich mit der Geschichte der Stadt im Rahmen meiner Arbeiten zur regionalen Industrialisierung in Schaumburg beschäftigt, aber Kleinstadtgeschichte hatte mich bislang nicht besonders interessiert, eher ländlich/dörfliche Entwicklungen. Insofern bin ich nicht nur manch Vertrautem, sondern auch manch Neuem begegnet.
Was sofort auffällt, sind die teilweise dramatischen Veränderungen und Wandlungen, denen die Stadt im Laufe ihres Bestehens unterworfen war, und auch, wie sehr die Stadt dabei von externen Einflüssen abhängig war. Kleinstadtgeschichte muss nicht langweilig sein, auch nicht weltabgeschieden.

Ein paar Stichworte und wenige Daten zeigen das sehr deutlich:
1167 Klostergründung urkundlich nachgewiesen,
1181 Marktprivileg durch Kaiser Barbarossa, damit hatte die Klostersiedlung eine privilegierte Position in der Regierung, die aber in den folgenden Jahrhunderten durch die schaumburg-lippischen Landesherren immer mehr abgebaut wurde.
1565 dann die Verleihung der Fleckenrechte an den Ort, 1615 folgen die Stadtrechte, wobei die Stadt damit eine vom Landesherrn abhängige Siedlung war. 
Dennoch hätte jetzt ein schneller Aufstieg folgen können, lag doch Obernkirchen zentral in der Grafschaft Schaumburg, verfügte über reiche Steinkohlenvorkommen und einen hervorragenden Sandstein.
Der 30jährige Krieg und die folgende Teilung der Grafschaft, bei die Stadt in eine problematische Randlage geriet, kamen dazwischen. Über die folgenden anderthalb Jahrhunderte wissen wir bislang nur wenig. 
Dann aber im frühen 19. Jahrhundert nimmt die Stadt einen rapiden Aufschwung, trotz des Fehlens einer Eisenbahnverbindung. Vor allem mit der Steinkohle verfügt Obernkirchen über einen wichtigen Rohstoff der Industrialisierung, der sich direkt am Ort durch die Gründung zweier exportorientierter Glashütten auswirkt. Steinkohle und Glas, dazu der Sandstein sind dann für fast zwei Jahrhunderte tragende Säulen der städtischen Entwicklung und der umliegenden Orte. Kleinstädte als Verlierer der Industrialisierung? Hier ist nichts davon zu sehen. Vielmehr wird Obernkirchen dank seiner Bodenschätze zum Zentrum einer kleinstädtisch-ländlichen Industrialisierung wie wir sie sonst etwa aus dem Saarland kennen. 
Was kennzeichnend für diese Industrialisierung war, ist deren Verknüpfung mit externen Märkten. Der Sandstein wurde zwar auch in der Region verarbeitet, seit dem 18. Jahrhundert aber zunehmend über Bremen im Transatlantikhandel verkauft, das seit 1799 produzierte Glas wurde spätestens seit den 1840er Jahren vorwiegend im internationalen Handel abgesetzt. Ohne die überregionalen Märkte hätte der Ort nicht seinen vergleichsweisen starken Aufschwung im 19. Jahrhundert nehmen können. 

Durch die Industrialisierung entsteht ein gespaltene Stadtgesellschaft. Hier die bürgerliche Gesellschaft, repräsentiert durch Verwaltungsbeamte (Obernkirchen war u.a. Sitz des Amtsgerichts), Händler und Kaufleute. Dort die in sich keineswegs homogene, aber gut organisierte und sich in der Ablehnung der konservativen Gesellschaft einige Arbeiterbewegung. Zwar bildete sie sich erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts heraus - wie auch in anderen Regionen - aber dann war sie um so stärker. 
Daran änderte sich auch in der Weimarer Republik nichts. Immerhin ist Obernkirchen der Wirkungsort des einzigen kommunistischen Ministers des Landes Niedersachsen gewesen (Karl Abel). Während in der Endphase der Weimarer Republik sich das bürgerliche Lager den Nationalsozialisten regelrecht ausliefert, bleibt die „proletarische“ Seite geschlossen ihren Parteien treu, der SPD und der KPD.
Undenkbar wäre die Industrialisierung auch ohne den Zuzug von Arbeitsemigranten gewesen, beginnend mit den Glasmachern Anfang des 19. Jahrhunderts, später russischen und italienischen Arbeitern. Es gibt übrigens Hinweise darauf, dass die Geschlechterproportionen dadurch nachhaltig verändert worden sind. Obernkirchen war im 18. und frühen 19. Jahrhundert eine „Stadt der Frauen“ mit einem teilweise deutlichen Frauenüberschuss. Das änderte sich mit der Industrialisierung, als vorrangig junge Männer zuzogen. 

Als „Erbe“ der Industrialisierung dominiert die SPD bis heute die Stadt. Aber die ökonomische Basis ist schwächer geworden. Der Bergbau wurde 1960 eingestellt, die Glasindustrie hat in den letzten 15 Jahren schwere Zeiten erlebt, die Sandsteinbrüche bestehen noch, spielen aber für Obernkirchen nur eine untergeordnete Bedeutung, die Firma Bornemann, Hersteller von Spezialpumpen und ursprünglich aus einer Schlosserei hervorgegangen, hat auch ökonomisch zu kämpfen.

Allerdings wäre der Blick auf die Kleinstadt unvollständig, würden nicht auch die umliegenden Dörfer einbezogen. Obernkirchen hatte aufgrund seiner kirchlichen Funktionen einen großen Sprengel, was bedeutete, dass in den umliegenden, zur Stadt eingepfarrten Gemeinden der Gottesdienst und die Seelsorge von der Kleinstadt aus organisiert wurde und zugleich die Schulaufsicht wahrgenommen wurde. Zudem war Obernkirchen für die nächstgelegenen Dörfer auch der zentrale Einkaufsort. Mit der Industrialisierung arbeiteten aber auch immer mehr Einwohner aus den Nachbardörfern in den städtischen Industriebetrieben, insbesondere im Bergbau und der Glasindustrie. So war für das benachbarte Krainhagen in den 1930er Jahren die Glashütte der wichtigste Arbeitgeber. Stadt und umliegende Dörfer waren insofern eng aufeinander bezogen. Das betraf auch die politische Orientierung. Die organisierte Arbeiterbewegung machte vor den Dörfern nicht halt, in manchen konnte in der Endphase der Weimarer Republik die KPD fast genauso viele Stimmen wie die SPD erreichen (im erwähnten Krainhagen sogar mehr!). 

Das soll erst einmal zur Einstimmung gewesen sein. Demnächst werden Artikel zu einzelnen Themen folgen. Hier noch ein paar Hinweise:

Die Website des Museums für Bergbau und Stadtgeschichte:
Dort finden sich auch ein paar neuere Artikel von mir.
Eine etwas „bunte“ Seite mit einem guten Überblick zur Stadtgeschichte:
Ein etwas anderer Blog:

Eine ältere, knappe Stadtgeschichte:
Krumsiek, Rolf: Obernkirchen: Chronik einer alten Stadt, o. O. 1981.

Meine ältere Arbeit zur schaumburgischen Industrialisierung:
Schneider, Karl H.: Schaumburg in der Industrialisierung. Teil 2. Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg., Melle 1995 (Schaumburger Studien 55).