Mittwoch, 11. November 2015

Eine frühe Bürgerinitiative

Viele glauben, dass vor dem 19. oder gar dem 20. Jahrhundert in unserer Gesellschaft Willkür herrschte. Der Gutsherr konnte danach mit seinen Leibeigenen machen, was er wollte, der „absolute“ Landesherr mit allen seinen Untertanen. So war es allerdings nicht. Zwar kannte die vormoderne Gesellschaft nicht unsere heutigen Möglichkeit der Partizipation, aber der Einzelne oder eine Gruppen waren nicht völlig rechtlos. Vielmehr gab es einerseits rechtliche Regeln, die für alle bindend waren, zum anderen alte Gepflogenheiten, die nicht einfach außer Kraft gesetzt werden konnten.
Untertanen und Bürger wehrten sich immer wieder gegen behördliche oder obrigkeitliche Willkür - oder das, was sie dafür hielten. In Obernkirchen bin ich nun auf einen Konflikt gestoßen, bei dem sich Bürger nicht gegen den Landesherrn wandten, sondern an ihn, und zwar gegen ihr eigenes Stadtregiment. Die Art und Weise, wie dieser Protest geführt wurde, wirkt in mancher Hinsicht höchst modern.
Die Geschichte fing damit an, dass 1762 der langjährige Bürgermeister Tünnermann gestorben war.
Ein Nachfolger musste gewählt werden, aber das erwies sich als gar nicht so einfach, denn die Bezahlung der Bürgermeister war mit unter 100 Reichtstaler (Rtlr.) im Jahr nicht gerade verlockend. Schließlich wurde nach einem Übergangskandidaten, der bald „resignierte“, also zurücktrat, der Cand. jur. Steding gewählt. Schon 1763, bei seiner Wahl, wurde wohl eine Zulage von 60 Rtlr. beschlossen. Zwei Jahre später wurde erneut eine solche Zulage, nun aus der Kontributionskasse (die Kontribution war ein Vorläufer unserer heutigen Grundsteuer, die aber von der Stadt erhoben, verwaltet und an den Staat weitergeleitet wurde) beschlossen. Doch die Bürger Obernkirchens waren damit überhaupt nicht einverstanden. Schnell formierte sich in der Stadt ein breiter Widerstand. Er entzündete sich daran, dass entgegen späterer Aussagen, die notwendigen 60 Rtlr. seien in der Kontributionskasse vorhandenen gewesen, das Geld von den Bürger eingetrieben wurde.
Der Bürger Feldmann formulierte im August ein langes Protestschreiben gegen diese Praxis; auch sollten zwei Vertreter der Stadt nach Kassel zum Hof des Landgrafen reisen, um dort die eigene Sache zu vertreten.
Die nun alarmierte Stadt suchte bei der Regierung in Rinteln Unterstützung. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Grafschaft Schaumburg hessischen Anteils noch wie ein selbständiges Territorium behandelt, das eine eigene Regierung in Rinteln hatte, die aber wiederum direkt dem Landgrafen in Kassel unterstand. Die Regierung ermutigte die Stadt, weiter das Geld einzutreiben und notfalls Pfänder zu nehmen, allerdings zugleich die klagenden Bürger zu befragen. Dieses Schreiben stammt vom 4. September 1765, aber schon zwei Tage später wurde die Regierung in Rinteln von ihrem Landesherrn aus Kassel regelrecht zurecht gewiesen, die Erhöhung der Mittel für den Bürgermeister sei vorher nicht genehmigt gewesen, die Bürger seien nicht zuvor informiert worden. Die schon eingetriebenen Gelder seien zurück zu geben.
Einen Eindruck von den Vorgängen, die sich im Spätsommer/Frühherbst in Obernkirchen abgespielt haben könnten, gibt ein leider undatiertes Klageschreiben der Bürger, in dem es heißt:
„Es half kein Protestieren noch appellieren, auch nicht einen Tag über wollte man damit anstehen. Und da keiner der Unsrigen Lust indeß bezeuget und belieben getragen (??), des andern sein Guth an sich zu bringen (aha!), so mußten die Juden herbey, so das mehrste dann dahin genommen, sogar einer der unsrigen nahmens Brandt wurde gefänglich hingesetzt“.
Die Stadt bestätigte später diese Aussagen, sah darin aber kein Problem, sondern eine Form der Aufsässigkeit gegen das Stadtregiment.
Eigentlich war das Schreiben des Landgrafen an die Regierung in Rinteln eindeutig gewesen, eigentlich. Die Bürger waren sich offenbar nicht so sicher, und deshalb beauftragten sie am 10. September den Anwalt Casselmann mit der Wahrnehmung ihrer Interessen. Die formelle Bestätigung für Casselmann liegt der Akte bei. Sie enthält eine vierseitige Unterschriftenliste, auf der 153 Namen verzeichnet sind. Da Obernkirchen 20 Jahre später ca. 200 Haushalte hatte, können wir davon ausgehen, dass die Mehrheit der Bürger den Protest unterstützte.
Die Liste ist auch deshalb interessant, weil sie zeigt, dass zu diesem Zeitpunkt keineswegs alle Obernkirchener schreiben konnten. Immerhin 49, also fast ein Drittel, musste mit Kreuzen zeichnen, konnte also seinen Namen nicht einmal schreiben. Unter den Unterzeichnern waren auch 15 Witwen, von denen immerhin neun ihren Namen nicht schreiben konnten.
Die Sorge der Kläger, dass die Sache irgendwie im Sande verlaufen könnte, war offenbar nicht unberechtigt, denn zunächst geschah - nichts. Im Januar 1766, also über ein viertel Jahr nach der eigentlich klaren Anweisung des Landgrafen war offenbar immer noch nichts passiert. Zwar hatte die Regierung in Rinteln erneut nach Kassel berichtet, aber der Landgraf war mit den Antworten nicht einverstanden. Im Dezember wollte er noch einmal wissen, weshalb überhaupt die Zulage ohne Zustimmung aus Kassel bewilligt worden sei. Die Regierung beschrieb noch einmal, dass schon Stedings Vorgänger eine entsprechende Zulage erhalten hatte und man deshalb davon ausgegangen sei, alles habe seine Ordnung. Am 31. Januar kam dann ein weiteres Schreiben aus Kassel, das wie eine Ohrfeige für die Beamten gewirkt haben muss. Die Zulage sei ohne landesherrliche Genehmigung erfolgt und daher nichtig, die Bürger müßten ihr Geld zurück erhalten.
Doch immer noch ließ man sich Zeit. Im Mai 1766, also erneut Monate nach der landesherrlichen Verfügung, beklagen sich Rat und Bürgermeister über das Verhalten der Bürger gegen ihre Obrigkeit, das als „despektierlich und strafbar“ bewertet wird. Rat und Bürgermeister hatten offenkundig ausgeblendet, dass sie gegen ausdrücklichen Befehl ihrer Obrigkeit handelten.
Es dauerte dann noch einmal bis in den Herbst hinein, ehe die Bürger ihre Gelder zurück erhielten. Die seiner Zeit genommenen Pfänder waren aber schon längst in fremde Hände gelangt. Immerhin bekamen sie ihr Geld zurück, die Summen lagen zwischen drei und zehn, in einzelnen Fällen bis zu 34 Groschen, also fast einen Reichstaler.
Was sagt uns diese Geschichte? Zum einen, dass sich Widerstand lohnen kann, wenn man einen langen Atem hat. Sie zeigt aber auch, dass Kassel offenkundig weit weg war, Stadtobrigkeit und Regierung in Rinteln mussten sich letztlich den Anordnungen aus Kassel beugen, aber sie verzögerten immer wieder die Anordnungen ihres Landesherrn. In einer von Herkommen und lokalem Eigensinn geprägten Gesellschaft spielte der zentrale, bürokratische Fürstenstaat zwar eine immer stärkere Rolle, die lokalen Gewalten erwiesen sich aber als zähe Kontrahenten.

Quelle: NLA Bbg. H 1 473, Teil 1
Es geht weiter ...

Der erste Eintrag in diesem Blog war eigentlich nur ein Test. An anderer Stelle waren schon ein paar Texte erschienen: http://www.museum-obernkirchen.de/blog.html und auch hier: http://www.museum-obernkirchen.de/fundgrube/quellen-und-texte.html.
Mir erscheint diese Art der Veröffentlichung aber nicht so gut zu sein, da alle Vorteile eines Blogs wegfallen. Deshalb werde ich hier weiter schreiben. Die nächste Geschichte folgt nach diesem Eintrag.
Meine Idee ist es, hier im Blog Texte zusammen zu stellen, die später auch in der geplanten Stadtgeschichte veröffentlicht werden. Mal sehen, ob das so gelingt.